Donnerstag, 20. Juni 2013

Die Rückkehr

Viele schöne, unterschiedliche Wege durfte ich bewandern
Am Donnerstag, dem 20. Juni war ich wieder zu Hause. Exakt 81 Tage nachdem ich die Schwelle meines Hauses übertreten und meinen ersten Schritt auf dem Camino getätigt hatte. Ich ging in winterlicher Umgebung mit Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt los, und kam an einem sommerlich warmen Frühlingstag wieder in Feldkirch an. Nach einer 36-stündigen Odyssee im Bus von Santiago nach München, einer unruhigen Nacht am dortigen Bahnhof und weiteren 4 Stunden im Zug Richtung Ländle, war ich wieder daheim. Ich stieg völlig übernächtigt aus dem Zug und machte das, was ich die letzten 80 Tage gemacht hatte - ich lief. Es waren zwar keine gelben Pfeile mehr zu finden, trotzdem tat die Bewegung nach dem vielen Sitzen gut. Ich lief ins Stadtzentrum und besuchte jenen Ort, der auch im Zentrum des Beginns meiner Reise stand: den Feldkircher Dom. Ich wollte, ja musste danke sagen! Ich bekam die Möglichkeit, die Kraft, 2500 Kilometer zu Fuß bis ans buchstäbliche "Ende der Welt" zu pilgern. Und das alles ohne ernsthafte Krankheit, Verletzung oder anderer Komplikationen. Ich bin mir sicher, dass mich viele gute Gedanken auf meinem Weg begleitet haben. Jemand hat auf mich aufgepasst, ganz sicher. Ich war ganz alleine in dem großen Gotteshaus. Das machte mich froh. Ich hatte auf dem Camino gelernt, was es heißt alleine zu sein. Was es heißt, sich mit sich selber zu beschäftigen. Ich lief aus der Stadt hinaus. Merkwürdigerweise traf ich überhaupt kein bekanntes Gesicht bis ich zu meiner Wohnstraße kam. Ein Nachbar, der gerade vor seinem Haus stand fragte mich, ob ich denn schon von meinen 800 Kilometern Jakobsweg zurück sei. Ich lache nur und sage "Ja, in diesem Moment". Es ist mir nicht wichtig, ob meine Nachbarn, Bekannten und Freunde wissen, wie lange ich nun tatsächlich unterwegs war. Wie viele Kilometer ich nun wirklich zurückgelegt habe. Ich bin diesen Weg nur für eine Person gegangen: für mich! Es war ein sehr merkwürdiges Gefühl, nach knapp 3 Monaten des einfachen, klar strukturierten Pilgeralltags plötzlich wieder in der gewohnten Umgebung zu sein. Es würde seine Zeit brauchen, wieder zu Hause "anzukommen". 

Pilgerstatue kurz vor dem Kap Finisterre
Es sind nun schon wieder gut 2 1/2 Monate seit meiner Rückkehr vom Camino vergangen - unglaublich wie die Zeit "gefühlt" schon wieder an mir vorbeigezogen ist. Vor inzwischen unglaublichen 5 Monaten zog ich meine Wanderstiefel an und betrat erstmals diesen im Zeichen der Jakobsmuschel stehenden, kraftvollen Weg. Ich schau mir die tausenden von Bildern an und kann nicht glauben, dass ich all das wirklich erlebt haben soll. Kommt man an einem Zielpunkt an, so ist das nicht das Ende. Es geht weiter. Es tun sich neue Wege und Ziele auf. Der Camino arbeitet auch heute noch sehr stark an und in mir. Es ist selbst jetzt in diesem Moment noch nicht einfach, das Erlebte in Worte zu fassen. Vielleicht ist dies in seinem ganzen Umfang auch gar nicht möglich. Es spielt keine Rolle, warum jemand diesen Weg gehen will. Am Ende wird die Person wissen, warum er es auf sich genommen hat. Ich weiß, dass ich einen Teil von mir auf den vielen Kilometern des Weges liegen habe lassen. Ich weiß auch, dass ich etwas Anderes dafür bekommen habe. Ich fühle es ganz tief in mir, kann es aber zum jetzigen Zeitpunkt (noch) nicht mit einem passenden Wort benennen.


Der letzte Kilometerstein am "Ende der Welt"
Dieser Blog soll in erster Linie eines tun: Mut machen. Es ist möglich, 2500 Kilometer zu gehen. Natürlich ist es nicht (immer) leicht. Man stößt an Grenzen, physisch wie psychisch. Man verläuft sich des Öfteren. Umwege und Sackgassen sind trotz der weitestgehend guten Markierungen vorprogrammiert. Man begegnet nicht immer nur freundlichen, positiv gesinnten Menschen. Man hat nicht immer nur Sonnenschein und feine Temperaturen, während man sich Schritt für Schritt seinem Ziel nähert. Der Weg bietet so viele Metaphern und Perspektiven für unser Leben - der Camino ist tatsächlich ein Abbild unseres Lebens. Nur scheinen seine Lektionen und Lehren aufgrund seiner großen Anforderungen manchmal extremer.

Ich kann nur jedem raten, sich einmal selbst auf den Weg zu machen. Sich von den natürlichen Abläufen von Sonne und Mond leiten zu lassen. Die Hektik des Alltags hinter sich zu lassen. Langsam und bewusst voranschreiten. Wieder "Mensch" zu sein.

Ich will versuchen, meine Vorbereitungen und Erfahrungen bestmöglich weiterzugeben. Vielleicht erscheinen sie dem ein oder anderen nützlich. Ich las vor meinem Aufbruch zahlreiche Blogs. Darin sind ganz persönliche, großartige Inhalte verborgen. Aus Dankbarkeit dafür ist dieser Blog dann folglich auch entstanden. Ich hoffe, dem ein oder anderen dadurch Mut, Information, oder aber auch einfach nur Vergnügen beim Lesen zukommen lassen zu können. Ich bitte jetzt schon um Verständnis, dass es seine Zeit brauchen wird, bis ich alle 77 Tage (74 Etappen) von Feldkirch bis zum Kap Finisterre niedergeschrieben haben werde.

Sollte jemand Fragen haben, oder auch sonst mit mir in Kontakt treten wollen, so kann er/sie mich natürlich jederzeit gerne anschreiben...

In besonderer Art und Weise möchte ich mich bei Eva, Hans und Harald bedanken - ihr 3 habt mir eine Perspektive am Camino eröffnet, die ich bis dahin noch nicht kannte. Ich werde die Zeit mit euch nie vergessen!

Buen Camino!

Georg Wachter

Dienstag, 18. Juni 2013

Tag 79: Santiago de Compostela – Burgos (Bus)

Der Raxoi-Palast gegenüber der Kathedrale
Der Tag meiner Abreise. Der Camino ist nun abgeschlossen. Trotzdem werde ich erst übermorgen wieder zu Hause sein. Unglaubliche 36 Stunden Busfahrt stehen mir bevor. Ich fahre eine Strecke zurück, die ich in 77 Tagen von der anderen Richtung her "erwandert" hatte - ein komisches Gefühl. Eva ist bereits sehr früh morgens aufgebrochen. Sie verabschiedete sich noch von mir. Es ist ausgemacht, dass wir uns im Oktober gemeinsam mit Hans bei Harald im Südtirol treffen werden. Der Abschied fällt mir sehr schwer, ich will es mir aber nicht anmerken lassen. Ich habe heute keine Eile, mein Bus würde erst zur Mittagszeit vom Busbahnhof Santiagos losfahren. Um 08:30 stehe ich auf und führe dasselbe Ritual durch, wie ich es mir die letzten Wochen, ja Monate angewöhnt hatte. Nach der Körperhygiene packe ich meinen Rucksack - das letzte Mal. Ich gehe in den voll besetzten Frühstücksraum. In Santiago angekommen scheint es niemand mehr wirklich eilig zu haben. Von Ruhe und Einkehr ist aber natürlich nichts mehr zu spüren. Ein herrliches Buffet ist angerichtet, es bleiben keine Wünsche offen… Ich setze mich an den Tisch einer rund 60-jährigen Frau, die ein Südafrikanisches Sportdress trägt. Es stellt sich schnell heraus, dass es sich um eine deutsche Pilgerin handelt. Sie erzählt mir, dass sie auf dem Weg nach Fisterra Opfer eines versuchten Raubüberfalls wurde. Es ist das erste Mal, dass ich am Camino aus erster Hand von einer kriminellen Handlung erfahre. Ein lautes Schreien und die auf Deutsch ausgesprochene Drohung, eine größere Anzahl anderer Pilger hinter sich zu haben (was gelogen war), schüchterte den Räuber offensichtlich dermaßen ein, dass er das Weite suchte. Sie entschied sich, nicht zur Polizei zu gehen. Zum einen aus Angst, von den Polizisten nicht richtig verstanden zu werden, da sie dem Spanischen nicht mächtig war. Zum anderen, weil es ihrer Meinung nach auch nichts bringen würde. Nach dem Motto "The show must go on" würde ein vermehrtes Auftreten von Polizisten am Camino nur als tourismus- und somit auch pilgerfeindlich angesehen werden. "Die würden doch eh nix unternehmen" meint sie. Nie wurde ich während meines Camino Zeuge auch nur irgendeiner Straftat. Ich sage ihr, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich dies wirklich hätte wissen wollen – irgendwie hätte ich den Camino gerne als gewalt- und deliktfreie Zone in meiner Erinnerung mit nach Hause genommen. Aber so ist eben die Realität. Und nichts anderes spiegelt der Camino wider. 

Gasse in Santiago de Compostela
Nach dem Frühstück nehme ich umgehend meinen bereits gepackten und reisefertigen Rucksack in die Hand, gebe den Schlüssel an der Rezeption ab und mache mich auf den Weg zur Busstation. Natürlich nicht, ohne noch einmal auf den Plaza del Obradoiro mit der Kathedrale, dem Raxoi-Palast und dem Parador-Hotel kurz ein letztes Mal zu verweilen. Die goldenen Muschelwegweiser Santiagos führen mich nun in die andere Richtung aus dem Zentrum der Stadt hinaus. In einem kleinen Supermarkt versorge ich mich mit dem Nötigsten - es sollte ja eine lange Fahrt werden. Am Busbahnhof angekommen weiß ich zunächst nicht, wohin ich gehen muss, aus den ausgestellten Fahrtunterlagen geht es nicht klar hervor. Eine am Informationsstand stehende Angestellte schickt mich in die falsche Richtung. Nachdem ich eine halbe Stunde vor Abfahrt ziemlich alleine an einer verwaist scheinenden Bushaltestelle stehe, wird schnell klar, das etwas nicht stimmen kann. Ich frage noch einmal - diesmal bei einer anderen Dame. Sie schickt mich ins Untergeschoß des Bahnhofs. Hier musste ich richtig sein. Zahlreiche Pilger warteten mit ihren Rucksäcken ungeduldig auf die Zuweisung ihrer Busse. Die spanischen Angestellten des Reiseunternehmens schienen völlig überfordert. Die Menschen waren gestresst und egoistisch. 

Ein Boden-Wegweiser in Santiago de
Compostela
Viele schienen Panik zu haben, keinen Sitzplatz mehr in Bus ergattern zu können. Ich empfand es als schlimm, wie schnell manche Menschen wieder in ihrem alltäglichen Trott verhaftet waren und sich darin auch noch sehr wohl zu fühlen schienen. Als ein Angestellter meinen Rucksack unsanft in den Gepäckraum des Busses beförderte, wurde ich auch kurz unrund. Schließlich waren teils leicht zerbrechliche Gegenstände, Souvenirs aus der Apostelstadt darin verstaut. Zu Hause stellte ich zu meiner Erleichterung fest, dass alles heil geblieben war. Über die Fahrt selber will ich nichts mehr berichten, zu ernüchternd war sie. Ich wollte bewusst langsam in den Alltag zurückkehren. Das permanente Abspielen von Hollywood-Blockbustern (natürlich auch in spanischer Sprache) ließ dies nicht zu. Ich war froh, als ich am Mittwoch kurz vor Mitternacht am Münchner Busbahnhof bei der Hackerbrücke erreichte. Es hatte auch um diese Uhrzeit noch knapp unter 30 Grad Celsius. Ich ging zum Hautbahnhof und machte es mir dort im Wartesaal "gemütlich" 

Montag, 17. Juni 2013

Tag 78: Fisterra - Santiago de Compostela (Bus)

Von Fisterra nach Santiago de Compostela (per Bus)
Distanz: -
Unterkunft Santiago de Compostela: Seminario Mayor

Kein Kilometer mehr zu laufen -
ich war am Ziel
Es gibt keine zeitliche Vorgabe mehr. Wir schlafen, bis das Tageslicht uns weckt. Es hat etwas aufgeklart. Aber immer noch verdecken zahlreiche Wolken den Himmel über dem "Ende der Welt". Aber immerhin regnet es nicht mehr. Wir beschließen, zum Leuchtturm am Kap zu laufen. Die Stimmung ist sonderbar. Ab und an kommen sogar ein paar Sonnenstrahlen durch die dicke Wolkendecke hindurch. Wir passieren die Iglesia de Santa María. Einige Pilger sind auch auf dem Weg zum Kap. Einige kommen mir sehr bekannt vor. Die Stimmung unter den Pilgern wirkt sehr gelöst. Das ultimative Ende der meisten Pilger ist am Kap Fisterre erreicht. Zufriedenheit und eine Art Verklärtheit ist in vielen Gesichtern zu erkennen. Wir laufen die breite Asphaltstraße weiter voran. Nur wenige Autos stören die idyllische Stimmungen dieses mystischen Ortes. Eine große Pilgerfigur aus Eisen, auf einem großen Betonblock stehend kommt in unser Blickfeld. Ein fantastische Fotomotiv, keine Frage. Der große Leuchtturm ist schon seit längerem gut zu sehen. 
Die Stimmung am "Kap Fisterra"
Wir passieren ein großes steinernes Kreuz und gehen die letzten Meter bis zum grün-weiß bemalten Leuchtturm. Natürlich nicht, ohne zuvor noch ein Foto vom 0-Kilometerstein zu machen. Keine Markierung würde uns jetzt noch den Weg weisen müssen. Keine Kilometerangaben mehr. Ich war froh und glücklich. Ich konnte nicht mehr weiter gehen. Vor mir war nurmehr Meer. Dankbarkeit machte sich in mir breit. Die ganzen Kilometer sind gegangen worden. Vom kleinen Feldkirch bis ans buchstäbliche Ende der Welt. Ich denke, dass dem Leser dieser Zeilen klar sein wird, dass dies ein besonders erhabener Moment für den Verfasser dieses Blogs gewesen sein muss. Es ist stets wunderbar, wenn man ein Ziel erreichen kann. Dieses Ziel war furchtbar weit weg. Ich hatte großes Glück, wurde während meines Camino kaum nennenswert krank oder verletzt. Mein Wille, an diesen Ort zu gelangen war stark genug. Ich wanderte 2500 Kilometer auf fantastischen Wegen auf einen mystischen, wunderbaren Ort zu. Jedem wird klar sein, dass "der Camino" nicht linear verlaufen kann. Er geht weiter. Wenn auch vielleicht nicht mehr durch gelbe Pfeile und Jakobsmuscheln markiert. Der Weg ist wie das Leben, er geht weiter...
Endlos weit wirkt der Horizont am
"Ende der Welt"
Nach einigen ruhigen Minuten des Schweigens und des in den unendlich zu sein scheinenden Horizont-Starrens kam ich langsam wieder in der Realität an. Mir war klar, dass dieser Zeipunkt unweigerlich kommen musste, irgendwann. Jetzt war er da. Ich musste zurück in die Heimat. Der Gedanke an zu Hause machte mich traurig und froh zugleich. So unendlich Vieles habe ich in den letzten 80 Tagen erlebt und gefühlt. Dass hier das Ende davon sein soll, war schwer zu begreifen und zu akzeptieren. Es war aber eine Tatsache. Ein kleines Feuer loderte zwischen den Steinen und Felsen des Kaps. Manch ein angekommener Pilger führte das traditionelle Ritual am Kap aus und verbrannte das ein oder andere Kleidungsstück. Im Wasser baden sah ich dann aber doch niemanden, es war einfach zu kalt dafür. Es gibt einen Souvenirshop am Kap. Dort gibt es Jakobsmuscheln, Jakobsstatuen, Caminoanhänger und und und zu kaufen. Der Großteil wirkte auf mich wie Ramsch. 
Der Pilger ist an seinem Ziel angekommen
Ich wollte mich dem nicht aussetzen und wollte den Ort schnell verlassen. Kommerz und Geldgier sollten nicht meine letzten Eindrücke dieses magischen Ortes sein. Wir liefen zum Hafen und gingen noch einmal in das Restaurant von gestern Abend. Die Calamari hatten gestern Eindruck gemacht, keine Frage. nun hieß es noch die restlichen Karten zur Post zu bringen. Eine verschickte ich auch an mein zu Hause gebliebenes Ich. Ich wollte den Stempel von Fisterra auf der Karte abgedruckt haben und so zahlte ich das Porto bar, kaufte keine Briefmarke. Die spanischen Briefmarken waren ohnedies durch die Bank hässlich und so hatte ich noch ein schönes Souvenir vom Kap. Dann ging es Richtung Busstation. Da wir noch ein wenig Zeit hatten, tranken wir noch einen Kaffee im Café gegenüber.

Ca. um 14:00 fuhr der Bus dann Richtung Santiago. Einmal mussten wir umsteigen. Eva hatte sich noch um ihren Rückflug zu kümmern. Ich nutzte die Zeit und suchte in der Stadt ein paar Andenken. Für Freunde, Familie, aber auch für mich selbst. Am Abend ging es noch einmal in die Casa Manolo. Ich schenkte Eva zum Abschied eine dunkelblaue Fliese - mit gelbem Pfeil und Jakobsmuschel. In wenigen Stunden sollte die kurze aber intensive Freundschaft ein - hoffentlich nur vorläufiges - Ende nehmen. Der Alltag würde uns wieder einholen und die gemeinsam verbrachte Zeit nur mehr eine - wenn auch sehr wertvolle - Erinnerung sein, die immer mehr verblassen würde... 

Sonntag, 16. Juni 2013

Tag 77: Olveiroa - Fisterra

Von Olveiroa nach Fisterra
Distanz: 31,9 KM
Unterkunft Fisterra: Pensión Finistellae


Sonnenaufgang in Olveiroa
Der letzte „Lauftag“ meines Caminos. Die unwiderruflich letzten Kilometer auf meinem 11-wöchigen Weg von Feldkirch bis ans Ende der Welt. Eva und ich beschließen, uns sehr zeitig auf die letzte Etappe machen zu wollen. Um 06:00 läutet bereits der Wecker. Die Rucksäcke wurden bereits am Abend des Vortages gepackt. Es ist noch relativ dunkel, als wir die Herberge verlassen. Wir wandern zügig auf die mit vielen Windmühlen bestückte Erhebung hinter Olveiroa. Es war für mich erstaunlich, wie viele Pilger schon so früh morgens unterwegs waren. Wir hatten das Glück, einen wunderbaren Sonnenaufgang beobachten zu können. Der orange-rosa gefärbte Himmel ist mit vielen Wolken verziert. Ich hoffe, dass wir einen schönen letzten Camino-Tag haben werden. Vor allem für den Abend wäre es wünschenswert, soll der Sonnenuntergang am Kap Fisterra doch etwas ganz Besonderes und Eindrucksvolles sein. Gallizien ist durch das vom Atlantik geprägte Klima als sehr feucht verschrien. Wir hatten bis zum heutigen Tag richtig viel Glück mit dem trockenen, meist sonnigen Wetter. 
 
Doppelter Markierstein:
Links - Fisterra, rechts Muxia
Es sind wunderschöne, abwechslungsreiche Wege und Pfade die wir heute bewandern dürfen. Nach 5 Kilometern erreichen wir den kleinen Ort Hospital. Da es die folgenden 15 Kilometer keine weitere Einkehrmöglichkeit mehr geben sollte (wie auch auf einem werbewirksamen Schild beschrieben), beschließen wir dort zu frühstücken. Es gibt Erdbeermarmeladen-Tostadas und Kaffee. Der Holländer von gestern Abend stößt bald auch zu uns. Es tut im sichtlich leid, dass er den Camino gestern als so negativ beschrieben hatte und entschuldigt sich sogar dafür. Vielleicht haben ihm das absehbare Ende seines Caminos oder ein harter Caminotag mit vielen erwanderten Kilometern auf sein Gemüt geschlagen. Wir frühstücken Seite an Seite, ehe es für uns wieder weitergeht. Alsbald kommen wir zu einem entscheidenden Markierungsstein. 2 Muscheln, 2 gelbe Pfeile und 2 Ortsnamen sind auf ihm zu sehen. Der eine Pfeil zeigt in Richtung Fisterra, der andere in Richtung Muxia. Der Markierungsstein erweist sich bald als begehrtes Fotomotiv. Eva zeigt sich als geduldige Fotografin und macht das ein oder andere Foto von gerade ankommenden Pilgern. Dann flüchten wir aber recht schnell und gehen nehmen den linken Straßenverlauf in Richtung Fisterra. 
 
Die Iglesia de San Marcos in Corcubión 
Über heideähnliche Landschaft erreichen wir die Kapelle "Ermita de Nuestra de las Nieves", deren anliegende Quelle gut für stillende Frauen und Muttertiere sein soll. Wir laufen noch eine knappe Stunde weiter - und plötzlich war es da: das Meer! Um ca. 10:15 konnten wir einen ersten Blick auf den Atlantik werfen. 77 Tage musste ich durch Binnenland laufen, um endlich am Meer zu sein. Ein erhebendes Gefühl! Wir passieren Caminos Chans und kommen nach Cée. Wir können der Küste entlang weiter laufen und kommen nach Corcubión. Die Iglesia de San Marcos ist eine wunderschöne kleine Kirche. Einige Kirchengänger treffen ein, es muss also gleich eine Messfeier stattfinden. Wir wollen nicht stören und haben Hunger. So begeben wir uns in eine kleine Botega direkt am Meer. Es gibt dort auch Bocadillos mit Pulpo. So gern ich den Pulpo auch gegrillt essen mag, auf einem Stück Brot war es mir dann doch ein wenig zu speziell. Die kleinen Tentakel, die aus dem Brot herausragten schlugen mir eindeutig auf dem Magen. Der Flanpudding als Nachtisch war dann aber wieder gut.  
 
Und dann war es plötzlich da: das Meer!
Wir erreichen den langen Sandstand "Playa de Langosteira", der als einer der schönsten Strände Spaniens gilt. Schnell zieht Eva einen vorbereiteten Kunststoffsack hervor und wir beginnen Muscheln zu sammeln. Und dies, obwohl es heftiger und heftiger zu regnen beginnt. Während sich Eva gezielt auf die Suche nach Jakobsmuscheln macht, finde ich beinahe jede Muschel sehr bemerkenswert und als ein Wunderwerk der Natur. Ich bin halt letztendlich doch ein Landei das man mit solch einfachen Dingen in Begeisterung versetzen kann. Aber immerhin hat sich dieses Landei auf den Weg gemacht – bis ans Ende der Welt… Der Sack wird recht schnell voll. Richtig schön große Jakobsmuscheln sind aber nicht zu finden. Meist nur deren Unterschale, die mit ihrem rötlichen Schimmer aber ebenfalls wunderschön anzuschauen ist und behutsam in unseren „Schatzsack“ hineingelegt wird. Bei diversen Souvenirshops in der Stadt und am Kap, sollten dann schöne Jakobsmuscheln um 1-3 € zu erwerben sein. Die selber gesammelten Muscheln waren für mich aber schöner.

Der heilige Jakob begleitet mich bis zum
ultimativen Ende meines Caminos
in Fisterra
Als wir den Strand zur Gänze abgelaufen sind, begeben wir uns sogleich ins Zentrum von Finisterre. Ein Mann, der mit seinem Leiterwagen Feuerholz hinter sich herkarrt und auch lautstark feilzubieten versucht, erklärt uns den Weg zu unserer Unterkunft. Wir passieren den Hafen und die kommunale Herberge im Zentrum des kleinen Fischerdörfchens und gehen dorfauswärts in Richtung Westen. Wir finden alsbald die Herbere „Finistelle“. Für nur wenige Euro mehr bekommen wir ein Zweierzimmer und entgehen somit einer weiteren Nacht unruhigen Schlafs in einem Zimmer mit Schnarchern und Fortgehwütigen. Fisterra ist für viele Pilger der eigentliche Abschluss ihres Camino. Ich verstehe, dass dort eine Menge Ballast herunterfallen muss. Vielleicht mischt sich auch ein wenig Melancholie darunter, ist dort dann doch das unwiderufliche Ende der Pilgerreise gekommen. Das schlechte Wetter mag das seinige dazu beigetragen haben, dass es überaus ruhig ist in der Stadt. Der Plan war klar, wir wollten einkaufen gehen und den Sonnenuntergang beim Leuchtturm, am tatsächlichen „Ende der Welt“ verbringen. Vor allem Eva, die bereits letztes Jahr Pech mit dem Wetter in Finisterre hatte. Damals hatte sie zunächst auch unglaubliches Wetterglück. Während ihrer 2 Wochen am Camino Portuges gab es bei ihr keinen einzigen Regentag. Kaum in Fisterra angekommen, öffnete der Himmel seine Schleusen. Es ist sehr schwer in Worte zu fassen, wie man sich fühlt, wenn man 2500 Kilometer hinter sich gerbacht hat. Das ganze Spektrum an Emotionen kam in mir hoch. Auch ein gewisser Stolz, in erster Linie aber einfach nur Dankbarkeit. Ich war dankbar, gesund diesen langen Weg bewältigt haben zu können. Der Weg wird mein ganzes Leben lang ein Teil von mir sein.
 

Samstag, 15. Juni 2013

Tag 76: Negreira - Olveiroa

Von Negreira nach Olveiroa
Distanz: 33,2 KM
Unterkunft Olveiroa: Pensión Rústica "Casa Loncho"


Die Stimmung am Friedhof
"San Julian de Negreira"
Wir verlassen um 8 Uhr die Herberge. Das Wetter ist auch heute sonnig. Wir verlassen Negreira. Nach rund 20 Minuten kommen wir zum Friedhof von Negreira. Die Stimmung ist fantastisch. Der Friedhof und die daran angrenzende kleine Steinkirche wirken unglaublich stark. Fast keine Pilger begegnen uns an diesem wunderschönen Morgen. Wir passieren zahlreiche Getreidespeicher, die für Gallizien typisch scheinen. Der Camino de Fisterra ist unglaublich abwechslungsreich und wunderschön. Eukalyptusbäume, Wiesen und Äcker wechseln einander ab. Immer wieder passieren wir kleinere Orte und Dörfer. Auf Güterwegen und kleineren Kommunalstraßen geht es immer weiter vorwärts. Autos sind weit und breit keine zu sehen. Es tut unglaublich gut, wieder Ruhe beim Pilgern zu haben. So hätte ich es mir auch die 100 letzten Kilometer vor Santiago gewünscht. In Vilaserio kehren wir ein. Zahlreiche Pilger sind bereits in der kleinen Bodega. Die lieb gewonnenen Bocadillos und "Kas Limón" stehen auf dem Speise- bzw. Getränkeplan.   

Es ist schwer einzuschätzen, wie viele Pilger auf dem Camino nach Fisterra unterwegs sind. Heute haben wir vielleicht 20-30 Pilger getroffen. Wir haben am Vorabend ein Zimmer in der "Casa Loncho" in Olveiroa reserviert. Es ist ein beruhigendes Gefühl die Sicherheit eines Bettes für heute Nacht zu haben. Es gilt nicht mehr, frei sein zu müssen. Die vorhandenen Herbergen geben die Tagesetappen quasi vor. in der Casa Loncho sind bei unserer Ankunft bereits zahlreiche Pilger. Wir trinken "Claras" und ruhen uns aus. Die Sonne scheint noch sehr lange. Ich schreibe mein Tagebuch und genieße die Wärme. Als die Sonne langsam untergeht, wird die ganze Umgebung in ein sanftes Orange gefärbt. Wir beschließen, im kleinen Ortszentrum von Olveiroa abendzuessen. Die Tische im Freien sind alle besetzt, Ein holländischer, vielleicht um die 40 Jahre alter Pilger winkt uns zu seinem Tisch und bietet uns Platz an. Wir nehmen das Angebot gerne an. Der Holländer wirkt bereits etwas angeschlagen. Er scheint das ein oder andere alkoholhältige Getränk bereits intus zu haben. Er erzählt uns von seinen größtenteils negativen touristischen Erfahrungen am Camino. Wir scheinen gerade rechtzeitig gekommen zu sein, damit er seinen Pilgerfrust an uns ablassen kann. Er hat aber bereits aufgegessen und verlässt uns nach wenigen Minuten. Das Pilgermenü schmeckt nicht sonderlich gut. Der Wein ist leider auch eine Katastrophe. Das tut der schönen Abendstimmung jedoch keinen Abbruch. 
 
Morgen wird der letzte "Wander"tag meines Camino sein - unglaublich. Hoffentlich wird das Wetter bis zum Schluss halten - ein Sonnenuntergang am Kap Fisterra wäre der krönende Abschluss meines/unseres Caminos. 

Freitag, 14. Juni 2013

Tag 75: Santiago de Compostela - Negreira

Von Santiago de Compostela nach Negreira
Distanz: 22,1 KM
Unterkunft Negreira: Albergue "San José"


Geisterhaft wirken die Türme der Kathedrale, als wir die
Apostelstadt verlassen 
Der Tag begann mit herrlichem Sonnenschein. Mit Harald ging es noch zum gemeinsamen Frühstück. Ich übernahm die verantwortungsvolle Aufgabe, ein passendes Café mit hoffentlich akzeptablem Kaffee ausfindig zu machen. Ich verließ mich dabei auf meinen optischen Sinn und entschied mich für ein Café, dass mich stark an das Wiener Café Eiles erinnerte. Schon als der bestellte „Kaffee“ serviert wurde war klar, dass ich wieder einmal in ein Fettnäpfchen getreten war. Auch Harald runzelte recht unverhohlen seine Stirn. Sogar die Croissants, wo man annehmen könnte, dass bei deren Besorgung recht wenig falsch gemacht werden kann, waren definitiv nicht frisch und zerbröselten uns buchstäblich unter unseren Fingern weg. Die Suche nach einem guten Kaffee ist in Santiago, wie wahrscheinlich auf dem ganzen Camino eben Glücksache, kommt einer Lotterie gleich. Nachdem wir uns sehr herzlich von Harald verabschiedet hatten, verließen Eva und ich raschen Schrittes die Apostelstadt.

Typischer Wegabschnitt am
"Camiño de Fisterra"
Die Markierungen verlaufen gleich wie zuvor. Gelbe Pfeile führten uns von der Kathedrale weg hinaus in die Peripherie Santiagos. Schon nach wenigen Minuten passierten wir die letzten Häuser der Großstadt und waren alsbald in einer wahren Traumlandschaft. Hohe Eukalyptusbäume und dichtes Buschwerk säumten einen herrlich schönen Wanderweg. Nach den letzten 100 Kilometern vor Santiago mit der langen Pilgerkolonne vor und hinter mir und dem Trubel in der Apostelstadt selber eine wahre Wohltat! Vielleicht 10 Pilger sollten uns heute auf unserem Weg nach Negreira begegnen. Die Herbergssituation auf dem Camino de Fisterra lässt einem auf dem Weg nach Fisterra nicht all zu viel Spielraum, die Übernachtungsstationen sind mehr oder weniger von vorhinein vorgegeben. Die Gespräche zwischen Eva und mir sind nicht mehr so viel. Uns beiden wird bewusst, dass sich der Camino unweigerlich dem Ende zubewegt. Es bedarf nicht vieler Worte. Die Ruhe nach dem Trubel in Santiago, die wunderbare Landschaft sprechen für sich.

3 Tage noch bis zum "Ende der Welt"
In der Herberge San José bekommen wir für 15€ pro Person ein Zweierzimmer. Die kommunale Herberge war - wie an einem Wegweiser durch ein Schild verkündet, bereits ausgebucht. Es stört mich aber auch nicht mehr, ein paar Euro mehr für eine ruhigere Nacht zu bezahlen. Ich hatte das einfach Leben mit teils sehr bis übervollen Schlafsälen 10 Wochen lang und brauchte es nun nicht mehr. 
Eine geräumige Küche stand uns in der Herberge zur Verfügung. Viele - der meist jüngeren Pilger - nahmen das Angebot in Anspruch. Während sich Eva um die Wäsche kümmerte, ging ich einkaufen. Wir hatten heute noch relativ viel "Freizeit", war die heutige Etappe doch nur 22 Kilometer lang. So gab es dann auch noch ein, zwei sonnige Stunden im zur Herberge gehörenden Garten. Es gab Bier und Kekse. Wir kochten gemeinsam, sobald es Platz in der Küche gab. Es ist schwer zu beschreiben, wie es mir in diesem Moment des Caminos ging. Auf der einen Seite war das große Ziel Santiago bereits erreicht. Auf der anderen Seite möchte ich nun das Meer erreichen. ich bin froh, dass ich mit Eva die perfekte Begleiterin auf diesen unwiderruflich letzten Kilometer gefunden habe. Ich habe das Gefühl, dass wir sehr gut miteinander harmonieren. Es bedarf nicht immer der großen Worte, das gefällt mir. Die Tagebucheinträge werden immer kürzer, die Fotos immer weniger, ich genieße das Auslaufen so unglaublich. Eine bestimmte Leere macht sich auch in mir breit. Das ist sehr schwer zu erklären, aber irgendwann muss das Ziel erreicht einfach werden. Ich bin irgendwie sehr abgespannt, Santiago war der große Höhepunkt, das goldene Ziel quasi. Nichts desto trotz will ich auch das Ende der Welt erreichen, ansonsten würd mir der Camino als unvollständig vorkommen.

Donnerstag, 13. Juni 2013

Tag 74: Ruhetag Santiago de Compostela

Santiago de Compostela
Distanz: -
Unterkunft Santiago de Compostela: Seminario Menor


In diesem prachtvollen Sarkophag sollen die
Überreste von Jakobus dem Älteren liegen
Santiago zeigt sich heute von seiner schönsten Seite. Zum ersten Mal seit 74 Tagen kann ich so richtig ausschlafen. Die Sonnenstrahlen wecken mich sanft, ich fühl mich hervorragend. Für Hans geht der Camino heute schon weiter. Er will ohne Pausentag seinen Weg bis zum Kap Finisterre fortsetzen. Harald, der ja bereits morgen zurück ins Südtirol muss, wird den Tag in Santiago bleiben, ebenso wie Eva und ich. Wir frühstücken noch zu viert. So um 10 Uhr packt Hans seinen Rucksack und verabschiedet sich sehr herzlich von uns. Wir machen aus, dass wir uns am Sonntag um 18:20 (keine Ahnung wie er gerade auf diese Uhrzeit kam) beim Leuchtturm in Finisterre treffen werden. Er will dort nämlich einen Tag Pause machen, da sein Flug nach Hause erst am Montag Nacht geht. Eva, Harald und ich beschließen, die tägliche Pilgermesse um 12 Uhr in der Kathedrale zu besuchen. Wir sind bereits um 11:00 dort – einige Pilger besetzten da bereits die besten Plätze. Während uns Eva eine Bank im rechten Seitenschiff reserviert, kann ich die Kathedrale besichtigen. Ich steige die Treppen der Krypta hinunter. Es gibt dort keine Warteschlange. Auf einer Betbank kniet ein Ehepaar, tief in ein Gebet versunken. Erst als ich sie passiere, sehe ich, dass die Bank in Richtung von dicken Eisenstäben und einem kleinen silbernen Sarkophag blickt – kein Zweifel, das muss der Platz sein, in dem die vermeintlichen Überreste des Jakobus des Älteren aufbewahrt werden. Zweifellos ist dies auch der Grund, warum Santiago de Compostela zu der Stadt (gemacht) wurde, die sie heute ist. Ich stell mir nicht die Frage, ob sich die Gebeine des Apostels tatsächlich in diesem kostbaren Gefäß befinden – es ist nicht wichtig für mich. 

Das Botafumeiro
Die Messe ist sehr feierlich, die Kathedrale bis auf den letzten Platz gefüllt. Auch das "Botafumeiro", das überdimensionale Weihrauchfass in der Kathedrale wurde heute geschwenkt. Dies soll nicht mehr jeden Tag passieren, daher bin ich froh, das noch erlebt haben zu dürfen. Ich konnte übrigens nicht hören, dass erwähnt wurde, dass ein Pilger von Österreich in Santiago angekommen ist. Früher soll es angeblich noch üblich gewesen sein, dass man die Herkunft aller Pilger verlesen hat. Es ist mir aber auch nicht wichtig. Schon beim gestrigen Abholen der Compostela wurde mir klar, dass man in Santiago nicht mit persönlicher Behandlung zu rechnen hatte. Das ist aber auch nicht wichtig. Ich bin sehr dankbar dafür, so viele tolle Menschen am Camino getroffen und kennengelernt zu haben. Vor allem jene 3, mit denen ich das Ende meines Pilgerweges verbringen durfte. Es war wunderschön, mit ihnen gemeinsam die Apostelstadt erreicht zu haben.

Ein herrlicher Platz an einem schönen (Ruhe)-tag in Santiago
Den Nachmittag verbringe ich damit, an einem Platz in der Nähe der Kathedrale Karten zu schreiben. Ich genieße 2 Tassen Café con Leche und beobachte Fußball spielende Kinder, die ganz ohne erwachsene Aufsichtspersonen auszukommen scheinen. Sie bedürfen keines Schiedsrichters. Absolut fair und diszipliniert bilden sie Mannschaften, Mädchen und Jungen gemischt, und spielen einfach drauf los. Technisch fein und schon sehr weit spielen die rund 8 bis 10-jährigen auf sehr hohem Niveau und haben einfach nur Spaß an dem was sie machen. Etwas gefährlicher wurde es für mich, als 2 Jungs ein weiteres Spiel mit dem Ball prolongierten, eine Art Stufen-Zielschießen. Ziel war es ganz offensichtlich, die oberste Stufen von Rund 20 zu treffen. Blöderweise stand mein Tisch in unmittelbarer Nachbarschaft mit der obersten Stiegenkannte, was dazu führte, dass der Ball 2, 3 Mal recht knapp an mir vorbeigeflogen kann. Mit einem schnell und heftig und wie ich finde auch sehr ernst gemeinten einsetzenden „Perdon, Perdon, Perdon“ schnaufte so gleich einer der beiden Protagonisten in meine Richtung.
Blick vom Seminario Menor
Der heutige Ruhetag war sehr wichtig für mich. Ich war sehr müde. Im Körper und vor allem auch im Kopf. Während des Kartenschreibens wurde mir bewusst, dass ich bald wieder im Alltag sein würde. Natürlich wollte ich wissen, wie es meiner Familie, meinen Freunden in den letzten knapp 3 Monaten gegangen ist. Dennoch wurde ich auch etwas melancholisch. Bald würde das Abenteuer Jakobsweg für mich vorbei sein. Es ist ein sehr fordernder Weg, dennoch bedeutete er mir nach dem vielen Kilometern, den erlebten Höhen und Tiefen alles. Ich würde ihn sehr vermissen.

Auch Möwen waren von meinem Platz aus gut auszumachen. Es ist klar, das Meer kann nicht mehr weit weg sein. Laut meinem Führer keine 100 Kilometer. Ich freute mich bereits darauf, morgen wieder auf dem Camino zu sein und meine unwiderruflich letzten drei Etappen anzugehen.

Mittwoch, 12. Juni 2013

Tag 73: Salceda - Santiago de Compostela

Von  Salceda nach Santiago de Compostela
Distanz: 29,9 KM
Unterkunft Santiago de Compostela: Seminario Menor
 
Ein letzter "Beschützer" auf dem Camino
Am 73. Tag meiner Pilgerreise sollte ich mein großes Ziel - Santiago de Compostela - erreichen. Ich war irgendwie froh, nicht alleine dort ankommen zu müssen. Ich war lange genug alleine gelaufen - außerdem würde ich auf dem großen Platz vor der Kathedrale ohnehin auch noch Zeit für meine eigenen Gedanken haben. Wie reagiert man, wenn man knapp 2500 Kilometer zurückgelegt hat und dann an seinem Ziel ankommt? Ich hatte die Kathedrale schon so oft in meinen Träumen gesehen. Heute sollte ich es endlich real erleben können.

Wir frühstücken noch in der Herberge in Salceda ehe wir uns zu 5. auf die finale Etappe machen. Nicole begleitet uns auf unseren letzten rund 30 Kilometern. Wir hatten alle zusammen keine sonderlich gute Nacht gehabt. Harald flüchtete sogar ins Freie und suchte auf der Hollywoodschaukel noch nach ein paar Stunden Schlaf. In dieser Nacht taten sich übrigens überwiegend die weiblichen Pilger als Schnarch-Epizentren hervor. Ich war etwas nervös und hatte dadurch eine sehr unruhige Nacht. Heute wird ein großes Kapitel beendet. Ein großes und wichtiges Kapitel meines Lebens.
 
Die Straßen und Gassen Santiagos -
die Kathedrale kann nicht mehr fern sein
Der heutige Tag war stark bewölkt, die Sonne zeigte sich nicht. Wir schwiegen während des Großteils der Etappe. Jedem gingen viele Gedanken durch den Kopf. Der Höhepunkt und damit das unwiderrufliche Ende des Caminos rückt in unmittelbare Nähe. Wir frühstücken heute gleich 2 Mal. Es scheint fast so, als sei es eine Art Verzögerungstaktik. Oder aber es sollen die letzten Kilometer einfach noch genossen werden. Es passt aber gut so für mich. Um ca. 10:30 sitzen wir bei Empanadas und Bocadillos in einem Café. Viele andere Pilger tun es uns gleich. Es ist keine ausgelassene Stimmung. Ähnlich wie die Ruhe vor dem Sturm wirken die meisten Pilger eher nachdenklich, denn euphorisch. In der Pilgerherberge in Brienzwiler meinte Herbergsvater Christian, dass man die letzte Nacht auf dem Monte do Gozo verbringen sollte, um am nächsten Tag zeitig in der Früh vor den Touristenmassen in der Stadt in aller Ruhe ankommen zu können. Mir erschien der sicherlich gut gemeinte Ratschlag zu Beginn absolut einleuchtend. Es sollte sich bei uns halt einfach nicht so ergeben. Es macht einfach keinen Sinn, die Etappe künstlich noch einmal in zwei Teile zu schneiden.

Nach 73 Tagen war ich in Santiago de
Compostela angekommen
Kurz vor dem Monte do Gozo gibt es noch die letzte Pause vor dem Einzug nach Santiago. Burger und Cola sollen die letzten Kräfte für die Schluss-Kilometer freisetzen. Laut dröhnt spanische Popmusik aus dem krächzenden Lautsprecher. Wir bleiben nicht lange sitzen. Nahezu wortlos betreten wir den Freudenberg, der eigentlich ziemlich unspektakulär wirkt. Das Papstdenkmal ist - wie ich finde - eher hässlich denn mich erfreuend. Goldene Bodenmarkierungen zeigen uns den Weg ins Stadtinnere. Viele Pilger sind jetzt vor und hinter uns. Einige kommen an, andere verweilen oder verlassen die Stadt auch schon wieder. Große Freude, Dankbarkeit, aber auch Sprachlosigkeit und Traurigkeit machen sich in mir breit. Ein "Aprilwetter" der Gefühle quasi. Durch prächtige Gassen gelangen wir immer weiter ins Zentrum der Apostelstadt. Durch ein Stadttor, wo ein Dudelsack-Spieler die Menschen unterhält, kommen wir auf einen großen Platz. Ich registriere zunächst gar nicht, dass dies der Platz der Plätze in Santiago ist. Ich war angekommen! Stolz thront die Kathedrale vor mir. Ich hatte unzählige Bilder von dem Bauwerk gesehen, aber erst wenn man wirklich und wahrhaftig davorsteht, wird man so richtig in ihren Bann gezogen. Ich verließ meine Herde für einige Zeit. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich für mich war. Ich hörte aber keine Menschen mehr. Der Trubel vor der Kathedrale verschwand in einem Meer der Stille. Viele Bilder kamen in mir hoch. Von meinem Start aus dem kleinen noch im Winterschlaf versunkenen Feldkirch am Ostermontag, meiner Ankunft in Einsiedeln, meiner Niedergeschlagenheit in Genf, der Ankunft im großartigen Pilgerzentrum Le Puy, die Überquerung der Pyrenäen usw. Viele Gesichter begleiteten diese Gedanken. Menschen aus Vergangenheit und Gegenwart kamen vor mein geistiges Auge. Ich war dankbar.

Während ich für mich alleine war, machten die anderen bereits Fotos für´s Erinnerungsalbum. Ich weiß nicht was in ihnen zum Zeitpunkt der Ankunft in der Apostelstadt vorgegangen sein mag.